Moralkritik für die Meinungsdiktatur
Rezension zu: "Im Moralgefängnis - Spaltung verstehen und überwinden" von Michael Andrick
Es gibt nur wenige Bücher, die mich mit so gemischten Gefühlen zurückgelassen haben wie "Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden" des Philosophen und Publizisten Michael Andrick. Denn ich erlebe selten, dass ein Autor die richtigen Fragen stellt und einen interessanten Ansatz hat, aber dann - aus meiner Sicht - am Ende mit Schwung gegen die Wand fährt, die er vorher selbst argumentativ aufgebaut hat.
Andricks Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass es selbst im Freundes- und Familienkreis immer schwieriger geworden ist, über bestimmte Themen zu reden - was dazu geführt hat, dass im besten Fall diese Themen um des lieben Friedens willen oft gar nicht erst angesprochen werden und dieses Vermeidungsverhalten im schlimmsten Fall zu Sprachlosigkeit oder sogar persönlicher Distanzierung führt.
Die richtigen Fragen Andricks lauten: "Wie wäre es, wenn es so etwas wie eine geteilte Krisenerfahrung gäbe, von der alle, die heute zerstritten sind oder sich heikel anschweigen, gemeinsam ausgehen könnten, um einen Neuanfang zu machen?" (S. 10). Und: "Gibt es irgendwo einen Standpunkt, von dem aus betrachtet jeder in den letzten Jahren dasselbe erlebt hat?" (11) Der Kontext für diese Fragen sind natürlich die beiden systemischen Irritationen Pandemie und Ukrainekrieg, die zu gesellschaftlichen Kontroversen und Ausgrenzungserfahrungen geführt haben - und die bei bestimmten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Entfremdung gegenüber Medien und Mehrheit, Staat und Demokratie ausgelöst oder zumindest befördert haben.
Der interessante Ansatz Andricks besteht in seinen beiden Grundthesen: "Spaltung ist ein Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen und die so miteinander eine bestimmte Kultur betreiben: Spaltung lebt vom Mitmachen." Und: "Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung... Diese Kultur, in der spalterisches Handeln vorherrscht, nenne ich das Regime des Moralismus. Seine Kennzeichen sind u. a. Verhaltensweisen wie das gegenseitige Abkanzeln, Stigmatisieren und Umstrittenmachen, aber auch Gedanken und sprachpolizeiliche Initiativen und das Operieren mit Kontaktschuldfantasien." (12/13) Ein Ansatz, den ich durchaus nachvollziehbar finde, wie man an anderer Stelle nachlesen kann.
Irritationsgefühle stellten sich bei meiner Lektüre aber immer dort ein, wo Andrick seine Analyse mit Beispielen belegt. Denn meine eigene Skepsis gegenüber der grundsätzlichen Ausrichtung der Corona-Maßnahmen, der Migrationspolitik oder der regierungsamtlichen Beurteilung des Ukrainekrieges hat sich bisher in Grenzen gehalten - und Andrick macht eben genau bei diesen Themen "Intoleranz und das abschätzige Desinteresse gegenüber Haltungen und Ansichten anderer" (18) aus. Trotzdem gelingt es dem Autor, mich von der Authentizität und Intensität der Ausgrenzungsgefühle zu überzeugen, die bei denjenigen entstanden sind, die sich im Zusammenhang mit diesen Themen als Minderheit zurückgesetzt, wenn nicht sogar verächtlich behandelt erfahren. Und ich finde auch seine Analyse erhellend, dass "Moralisierung" von Themen dazu führt, dass eine inhaltliche Argumentation von vornherein nicht nur unterbunden wird, sondern dass das Gegenüber dadurch vorschnell für nicht satisfaktionsfähig erklärt und in eine bestimmte (meist in die "rechte", aber auch in die "woke") Ecke gestellt wird. Sympathisch ist auch, dass Andrick regelmäßig darauf hinweist, dass diese Analyse eben nicht nur für eine politische Richtung gilt, und dass wir alle in der Versuchung stehen, Sachverhalte zu moralisieren - das zeigt sein Bemühen, uns alle (und auch sich selbst) dabei nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Und auch seine Beobachtung, dass in Zeiten großer Verunsicherung die Angst zu- und das Reflexionsniveau dadurch abnimmt: natürlich!
Im Gegensatz zu Andrick bin ich aber der Meinung, dass sich bestimmte Themen nicht nur für eine Moralisierung eignen, sondern diese geradezu herausfordern - und zwar genau die, die Andrick als prominenteste Beispiele für eine (aus seiner Sicht unzulässige) Moralisierung zitiert. Er betont zwar, dass es ihm um eine "zumindest unnötige, manchmal aber auch direkt sachwidrige Umdeutung einer Äußerung, einer Frage oder eines Themas in eine Angelegenheit der Moral" (60) geht - aber er schafft es nicht, genauer zu beschreiben, ab wann eine Moralisierung falsch wird.
Moralisierung halte ich dann für zulässig und sogar hilfreich, wenn die betreffenden Themen drei Kriterien erfüllen: wenn es erstens buchstäblich um Leben und Tod geht, wenn zweitens die Verantwortlichen unter einem außergewöhnlichen Handlungs- und Entscheidungsdruck stehen, und wenn drittens die getroffenen Entscheidungen mit einer gewissen Kompromisslosigkeit durchgesetzt werden müssen, um überhaupt wirken zu können. Also das politische Pendant zu dem, was Karl Jaspers als "Grenzsituationen" bezeichnet hat.
In normalen Zeiten kommt das selten bis nie vor - aber in einer Pandemie, einem Angriffskrieg in Europa sowie bei Flüchtlingen, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen, schon. Indem er genau diese Themen als die "vagen Großbedrohungen, von denen Politiker und Medien uns in den letzten Jahrzehnten erzählen" beschreibt, verkennt Andrick nicht nur ihre Dramatik, sondern auch ihre tragische Dimension: denn es sind Situationen, aus denen man - zumindest als zur Handlung gezwungener Politiker - nicht schuldlos entkommen kann. Jede Entscheidung hat negative Nebenwirkungen und steht in der Gefahr, hinterher mit guten Gründen als falsch bezeichnet werden zu können - trotzdem muss sie in der Situation getroffen werden.
Andrick unterstellt implizit, dass die Einschätzung der Gefahr, das Ausmaß der Maßnahmen und die Konsequenz in ihrer Durchsetzung auch bei solchen Themen ins Belieben der Bürger gestellt werden können oder sogar müssen - aber genau das kann sich niemand leisten, der (im Wortsinne) Verantwortung für andere trägt, wenn er sich und seinen Auftrag ernst nimmt.
Das Leben besteht in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle nicht aus binären Optionen, sondern verlangt differenzierte Antworten. In existenziellen Gefahrensituationen dagegen - wie sie die Corona-Pandemie dargestellt hat - schien der Luxus einer langsamen, iterativen, wohldurchdachten und demokratisch abgestimmten Reaktion zu Lebensgefahr für alle Beteiligten zu führen - auch und gerade für diejenigen, die nicht an die regierungsamtliche Einschätzung glauben wollten und damit zu einem Störfaktor wurden, der die Gesundheit aller bedroht hat.
Wer sich aber jetzt von diesen Beispielen (bzw. der Haltung des Autors dazu) abschrecken ließe und ihn schon nach den ersten 50 Seiten als halben Verschwörungstheoretiker abtäte, würde genau in die Falle tappen, in der gesellschaftliche Debatten derzeit festhängen. Die Versuchung ist groß, das Buch voreilig zuzuklappen und beiseite zu legen, weil einem die Gesamtrichtung nicht passt oder einem der Ton missfällt. Dann würde man einige bedenkenswerte Einsichten verpassen, die offensichtlich mit einer großen Empathie für alle Beteiligten entwickelt wurden.
Zum Beispiel, dass die Formulierung einer "gespaltenen Gesellschaft" falsch sei, wenn sich diese Spaltung nur auf ein oder zwei - wenn auch wichtige Themen - bezieht. "Spaltung" sei eine umfassende Unfähigkeit zur Kommunikation miteinander - und davon sind wir tatsächlich noch weit entfernt.
Das Buch kritisiert zudem - zu Recht - Moralisierung als einen Abwehrmechanismus gegen und Lösungsversuch für die Zumutungen der Komplexität: als intellektuellen Kurzschluss, der von der Wahrnehmung direkt zum Urteilen springt, ohne sich der Mühe des Denkens zu unterziehen. Moralisierung ist also oft Ausdruck einer instinktgesteuerten Reaktion auf Chaos und Gefahr - und kann schnell in die Suche nach einem Sündenbock kippen.
Auch der Hinweis darauf, dass die Politik mit Begriffen wie "Alternativlosigkeit" und "Systemrelevanz" notwendigen Diskussionen bewusst ausweicht, ist richtig - umso wichtiger wäre es dann aber gewesen, die Grenzen zwischen zulässiger und unzulässiger Moralisierung von Themen noch klarer und differenzierter zu beleuchten, als es der Autor in diesem Buch tut.
Was stattdessen passiert, ist das allmähliche Abrutschen in einen epistemologischen Anarchismus: die Einschätzung darüber, ob eine Gefahr existiert, soll im Zweifel der Entscheidungsgewalt (und dem Willen zur Solidarität mit gefährdeten Gruppen, oder eben dem Egoismus) des Einzelnen überlassen werden. Wie gesagt - bei vielen Themen ist das richtig, aber eben nicht bei allen. Andrick (und mit ihm viele Impfskeptiker) unterstellt, dass Politiker radikale Maßnahmen nur beschließen, weil sie dem Volk misstrauen - und leugnet damit de facto einerseits die Gefahr und andererseits die Notwendigkeit, auf diese mit Maßnahmen reagieren zu müssen, die nur dann einen Effekt haben, wenn sie konsequent durchgesetzt werden.
Was ich aber noch schlimmer finde: Das Misstrauen gegenüber Maßnahmen übersetzt sich nicht nur in Misstrauen gegenüber gewählten Politikern, sondern auch gegenüber allen, die aufgrund ihrer professionellen Einschätzung die Entscheidungsgrundlagen für die handelnden Politiker liefern - und es wird dadurch zu einem Angriff auf das, was Jonathan Rauch in seinem empfehlenswerten Buch als die "Constitution of Knowledge" bezeichnet hat: das unsichtbare "epistemische Betriebssystem liberaler Gesellschaften", nach dessen Regeln unterschiedliche Auffassungen in gemeinsames Wissen umgewandelt wird. Es umfasst eine Reihe von Institutionen (in Justiz, Behörden, Journalismus und Wissenschaft), die bestimmten Normen und Prinzipien folgen und der Suche nach Wahrheit verpflichtet sind - nicht nach "der Wahrheit", sondern Wahrheit (im Sinne Karl Poppers) als regulativem Prinzip: nicht als ein bestimmter Ort, an dem man irgendwann angekommen wäre, sondern als Richtung. In diesem System zur Produktion verlässlichen Wissens kann es durchaus mal zu falschen Schlussfolgerungen kommen - aber es zeichnet sich eben durch "institutionalisierte Selbstkorrektur" aus.
Andrick fehlt offenbar das Bewusstsein der Existenz und der Notwendigkeit eines solchen Systems für das Funktionieren einer Demokratie - sonst würde er nicht seitenlang gegen "Faktenchecker" polemisieren. Das fängt bei seiner bemerkenswert unterkomplexen Definition des Begriffs "Faktum" an ("...eine im Diskurs als wahr beanspruchte Beurteilung eines beliebigen Gegenstandes der Betrachtung" [108f.]) und hört mit der pauschalen Unterstellung auf, Faktenchecker würden "im Ergebnis... Äußerungen darauf [prüfen], ob sie die bevorzugte Weltinterpretation ihrer Sponsoren stützen" (111). Es tut mir leid: Einen Satz wie “Eine moralische Verurteilung ist… immer ein Akt der Arroganz, ein Hinweggehen über den anderen” (67) kann nur schreiben, wer davon überzeugt ist, dass es weder unbestreitbare Fakten noch moralische Tatsachen gibt.
Sein Vorwurf des Moralismus wird im Verlauf des Buches immer mehr zu einem Sammelsurium an Vorwürfen gegen "staatstragende Schichten", deren "Staatspolitik" sich in "Gesinnungsdiktat" und "Zensurpolitik" ergeht, er sieht das "Wiedererscheinen altbekannter Taktiken intoleranter, gewaltsamer, kompromissloser, sogar den Tod vieler Menschen in Kauf nehmender, sagen wir also: totalitärer Politik auf deutschem Boden" aufkommen und raunt vom "Bankrott unseres Staats- und Sittlichkeitsmythos" durch ein "Establishment", das "im Diffamierungskampf die größeren Lautsprecher" habe (139).
Schließlich fantasiert er sich einen "neuen Guten Menschen" zusammen, der angeblich "die Zensur des öffentlichen Meinungsraums nach Maßgabe des staatspolitisch festgelegten Guten und Rechten" wolle (153).
Ich glaube, dass Andrick an zentralen Stellen falsch abbiegt, weil er Meinung, Überzeugung und Wissen nicht sauber voneinander trennt - und er ist damit Produkt und Opfer eines Mediensystems, das diese konzeptionelle Melange provoziert, indem es tatsächlichen Experten, interessengeleiteten Lobbyisten, interessierten Bürgern, extremistischen Aktivisten, fanatischen Verschwörungstheoretikern, klugen Köpfen und kompletten Idioten weitgehend unterschiedslos eine Plattform bietet, auf der die radikalsten Ansichten zuverlässig die größte Reichweite bekommen.
Darüber zu spekulieren, warum das ausgerechnet einem bzw. diesem Philosophen passiert, wäre eine zusätzliche Untersuchung wert - ich vermute, hier kommen mehrere Faktoren zusammen. Die prominentesten Kandidaten sind: ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Obrigkeit und Medien als Lernerfahrung aus der DDR, das dazu führt, hinter öffentlichen Statements immer noch eine zweite, eigentliche, böswillige Ebene zu vermuten, gepaart mit postmoderner Skepsis gegenüber jeglichen Narrativen, die wiederum durch die Flut sich ständig widersprechender Social-Media-Inhalte bestätigt wird. Zudem werden die Ergebnisse einer ehrlichen Suche nach “Wahrheit” innerhalb der “Constitution of Knowledge” eben leider oft über im wahrsten Sinne des Wortes verantwortungslose Medien transportiert und transformiert, die Standards seriösen journalistischen Handwerks unterlaufen und weitgehend gesicherte Erkenntnisse sofort als “umstritten” beschreiben, sobald sich nur ein Außenseiter findet, der zu abweichenden Schlüssen kommt.
Ich wünsche mir jedenfalls von Politikern den Mut, im Kontext der oben definierten Ausnahmesituationen Maßnahmen als "moralisch richtig" zu beschreiben, wenn sie sie als solche erkannt haben - selbst auf die Gefahr hin, damit Gegner dieser Maßnahmen vor den Kopf zu stoßen.
Wenn man zur ehrlichen Überzeugung gekommen ist, dass bestimmte Positionen nicht nur harm- und folgenlose politische Meinungen sind, sondern Menschen existenziell gefährden können, sollte man sie eben nicht - wie es Andrick in seinem Buch vorschlägt - mit Respekt behandeln, sondern - wie Carlo Strenger es in seinem gleichnamigen Essay empfiehlt - mit "zivilisierter Verachtung" behandeln. Dabei den Respekt vor den Menschen, die diese verachtenswerten Positionen vertreten, nicht zu verlieren, ist - zugegebenermaßen - ein Balanceakt, den man nur durchhält, wenn man gelernt hat, Menschen nicht auf ihre Meinungen (oder ihre Gruppenzugehörigkeit) zu reduzieren.
Fazit: “Im Moralgefängnis” von Michael Andrick nach den ersten 50 Seiten zuzuklappen, wäre ein Fehler - es bis zum bitteren Ende zu lesen aber auch.