In aktuellen Diskussionen über Identitätspolitik passiert leider etwas, das in letzter Zeit viele Debatten kennzeichnet: Menschen reden aneinander vorbei, weil sie Begriffe benutzen, die sie jeweils unterschiedlich definieren oder interpretieren.
Sie tun das aus mehreren Gründen: erstens, weil es unüblich ist, solche Definitionen bewusst vorzunehmen und zu deklarieren, zweitens, weil es sprachliche und kulturelle Übersetzungsprobleme gibt, wenn Themen von einem Land (meist den USA) in ein anderes (in diesem Fall Deutschland) diffundieren, und drittens, weil es von interessierter Seite eine bewusste Umdeutung von Begriffen gibt, um sie politisch zu instrumentalisieren und nutzbar zu machen. Besonders der letzte Grund ist fatal, weil immer mehr Menschen unreflektiert Formulierungen und Begriffe wie „alter weißer Mann“, „Privilegien“, „kulturelle Aneignung“ oder „Antirassismus“ übernehmen, ohne sich der Denkfehler und des ideologischen Ballasts bewusst zu sein, die sie damit ungewollt verbreiten und verstärken. Weil es wahlweise pointiert, schlau oder auch nur richtig klingt.
1. Die wichtigste Unterscheidung zur Klärung vorweg: Ich unterscheide zwischen „weicher“ und „harter“ Identitätspolitik. Ich verwende den Begriff Identitätspolitik im Folgenden nicht im Sinne einer „weichen“ Identitätspolitik, die eigentlich nur ein modernes Label für klassische, gruppenbezogene Interessenpolitik von und für Minderheiten ist, sondern im Sinne einer „harten“ Identitätspolitik, wie sie von linken US-Vordenkern wie Ibram X. Kendi, Robin DiAngelo und Kimberlé Crenshaw prominent vertreten werden, aber auch von Neofaschisten wie Steve Bannon oder Alexander Dugin.
Harte Identitätspolitik in diesem Sinne ist eine im Kern antidemokratische und quasireligiöse Ideologie, die vier Merkmale aufweist: erstens löst sie individuelle Verantwortung für politisches und soziales Verhalten in „imagined communities“ auf, zweitens teilt sie zwanghaft Menschen in Täter und Opfer ein, und zwar auf Basis von unveränderlichen Merkmalen (und nicht auf Basis ihrer Werte, Meinungen oder ihres Verhaltens), drittens leugnet sie damit implizit oder explizit die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen (und ist insofern ein antiuniversalistisches Projekt), und viertens bestreitet sie die Kommunizierbarkeit unterschiedlicher Erfahrungen über Gruppengrenzen hinweg.
Diese vier Merkmale gelten sowohl für linke als auch rechte Identitätspolitik. Die Abgrenzung des demokratischen Spektrums nach Rechts hin funktioniert in Deutschland noch relativ gut, in den USA mit der Radikalisierung der Republikaner schon nicht mehr so richtig, und über Putin, Erdogan und Orban brauchen wir erst gar nicht diskutieren. Die Abgrenzung nach Links hin ist deutlich schwerer, weil linke Identitätspolitik aus einem emanzipativem Impetus entstanden ist und die bunte Fahne der Toleranz schwenkt, der Übergang zu autoritären Attitüden aber eher fließend ist und oft innerhalb traditioneller Interessengruppen verläuft. Bestes Beispiel ist da im Moment wohl die Spaltung innerhalb des Feminismus in Bezug auf den Umgang mit Transaktivisten.
Nur, um das zu erwähnen: Gegenpositionen zu identitätspolitischem Gedankengut werden unter anderem philosophisch vertreten von Paul Boghossian oder auch Markus Gabriel, sozialwissenschaftlich von Cornel West und Jonathan Haidt, politikwissenschaftlich von Mark Lilla und Francis Fukuyama.
2. Identitätspolitik ist die Wiedereinführung des gruppenbezogenen Vorurteils als legitime Form in die öffentliche Debatte. Die „antirassistische“ Variante ist damit nicht nur ein direkter Angriff auf den demokratischen Diskurs, der zur Voraussetzung hat, dass eine Ansicht unabhängig von gesellschaftlicher Position, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht wahr sein könnte, sondern auch ein direkter und expliziter Angriff auf die Grundposition Martin Luther Kings, für den „content of your character“ wichtiger ist und wichtiger sein soll als „color of your skin“.
3. Identitätspolitik verurteilt freie Individuen zu einer philosophisch-ideologisch begründeten Sippenhaft. Kulturelle Bindungen und unveränderliche körperliche Merkmale sowie die Herkunft werden zu unhintergehbaren und alles bestimmenden Determinanten. In einer freien Gesellschaft müssen wir dagegen von der Arbeitshypothese ausgehen, dass Werte sowie Haltungen, Zugehörigkeiten und Identitäten frei gewählt werden können.
4. Identitätspolitik macht jeden Menschen zum ungewählten und oft unfreiwilligen Repräsentanten einer fast beliebig zu definierenden gesellschaftlichen Gruppe. Weil seine Gruppenzugehörigkeit von außen (meist anhand unveränderlicher Merkmale) zugeschrieben wird, deckt sie die Möglichkeit von Individualität im Denken, Sprechen und Handeln zu und entwertet jegliche individuelle Abweichung von angeblich „richtigem“ oder (auf Basis seiner Gruppenzugehörigkeit) zu erwartendem Verhalten als Störung, die eindimensional entlang von Macht- und Hierarchiekriterien einsortiert und damit inhaltlich neutralisiert bzw. disqualifiziert wird.
5. Identitätspolitik macht jeden Nachteil automatisch zu einer Benachteiligung, weil sie jeden Teil des Lebens politisiert und in Macht- und Ohnmachtskategorien (bzw. entlang einer Machtskala) darstellt. Objektiv Nachteile zu haben führt schnell dazu, sich subjektiv benachteiligt zu fühlen. Von diesem Gefühl zur Überzeugung, dass man bewusst und gewollt benachteiligt wird, ist es nur ein kleiner Schritt.
6. Identitätspolitik begnügt sich oft mit einer binären Machtkategorie (unterdrückt / unterdrückend), die aber an der Vielfalt der realen Gruppenzugehörigkeiten scheitert. Deshalb musste „Intersektionalität“ als Begriff eingeführt werden, um das Modell zu differenzieren. Intersektionalität, bis an ihr logisches Ende gedacht, wird allerdings wieder zur Individualität, weil jedes Individuum gleichzeitig vielen „unterdrückten“ wie „unterdrückenden“ Gruppen angehört und am Ende nicht nur einzigartig ist, sondern auch nicht durch seine jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten hinreichend definiert werden kann.
7. Jemandem Privilegien vorzuwerfen bedeutet, ihm anzulasten, dass er andere Probleme hat als man selber. Es bedeutet, jemandem vorzuwerfen, dass er (angeblich) nicht diskriminiert wird – als ob ihn das automatisch zum Profiteur von Diskriminierung machen würde. Es bedeutet, ihm vorzuwerfen, dass jemand aus seiner sozialen Gruppe jemanden Dritten, der nicht zu seiner sozialen Gruppe gehört, diskriminiert. Jemandem Privilegien vorzuwerfen ist eine komplizierte Art, die folgende Haltung auszudrücken: „Die Welt ist ungerecht, und du bist schuld daran, weil du ein Mann / alt / weiß / hetero / nichtbehindert bist.“
Als konsequente Fortführung postmodernen Denkens, das sich weigert, absolute Aussagen über den Menschen und die Welt anzuerkennen, verwickeln sich Vertreter eines identitätspolitischen Ansatzes unweigerlich in Widersprüche, wenn sie auf der Geltung ihrer Ansichten beharren.
Eine konzeptionelle Paradoxie besteht z.B. darin, dass „antirassistische“ Identitätspolitik rassistische Kriterien mobilisiert, um Rassismus zu bekämpfen. Wer Rassismus als die zentrale Ursache von Konflikten begreift, wird die Kategorie „Rasse“ (was auch immer das sein soll) als einen gültigen und relevanten Maßstab zur Beurteilung der Realität einsetzen müssen. Das mag ja mit den besten Absichten geschehen, aber mehr Fokus auf „Rasse“ führt eben nicht zu weniger, sondern zu mehr Rassismus, und zementiert die Verhältnisse, die er aufzulösen versucht - wie sich in den USA auf unschöne Weise beobachten lässt.
Eine weitere Paradoxie besteht z.B. darin, dass die Disqualifizierung einer Meinung dadurch, dass man jemanden als alten, weißen Mann bezeichnet, selbst altersdiskriminierend, rassistisch und sexistisch ist. Das zeigt nur, dass Diskriminierung schon in Ordnung ist, wenn es nur den Richtigen trifft (nämlich den angeblichen Unterdrücker).
Eine dritte Paradoxie besteht in der logischen Inkonsequenz, mit der Gefühle bewertet werden, die mit einer intersubjektiv überprüfbaren Realität kollidieren. In einem Fall sollen diese richtiger und wichtiger als die Realität sein (wie dies z.B. bei Gefühlen bezüglich des eigenen Geschlechts jetzt sogar gesetzlich anerkannt werden soll). Dagegen wird die Anerkennung von solchen Gefühlen in anderen Fällen aber (noch?) vehement bestritten (wie das Beispiel Rachel Dolezal zeigt, die sich als Weiße “schwarz” gefühlt und präsentiert hat).
Als Ergebnis dieser Paradoxien kann am Ende kein gläubiger Identitätspolitiker beweisen, dass ein alter, heterosexueller, weißer “Cis-Mann” wie Wolfgang Thierse, auch wenn er sich letztes Jahr als Kritiker von Identitätspolitik positioniert hat, ganz tief drinnen nicht doch eine schwarze, behinderte, nicht-binäre Lesbe ist. (Dieser Satz ist völlig ernst gemeint, denn er nimmt – nur mal zum Spaß – die Position identitätspolitisch motivierter Transaktivisten beim Wort, dass gender identity eine Kategorie ist, die völlig unabhängig von objektiven Kriterien wie biologischen Determinanten oder gar vom äußeren Erscheinungsbild existiert.)
Da radikale Identitätspolitiker Individuen nicht mehr unabhängig von Gruppen und ihren unveränderlichen Merkmalen denken können, wird jeder Versuch einer sachlichen Kommunikation über reale Probleme als ein Akt interpretiert, die herrschenden Unterdrückungsverhältnisse zu verschleiern, zu manifestieren oder zu zementieren.
Da es konzeptionell keinen Konsens über eine gemeinsame, übergreifende Wahrheit geben kann, sondern nur individuelle, gruppen- bzw. interessenbezogene Wahrheiten im Plural, gibt es auch kein Drittes - keine Instanz, die als Schiedsrichter anerkannt werden kann. Was bleibt, ist der Kampf um Macht.
Identitätspolitik ist daher konzeptionell immer exklusiv, performativ immer ein Nullsummenspiel und strukturell immer kompromiss- und konsensfeindlich. Deshalb gefährdet sie langfristig die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft.