Vor einiger Zeit wurde ein Streit darüber publik, ob ein Bibelzitat auf der Kuppel des Berliner Stadtschlosses zeitweise durch erklärende und kommentierende Texte überblendet werden soll, und ob es überhaupt angebracht sei, in dieser Weise an die religiöse Rechtfertigung preußischer Herrschaft erinnert zu werden. Es ging um die Kombination zweier Textstellen, die König Friedrich Wilhelm IV. zusammengesucht hatte: "Es ist in keinem andern Heil, ... denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind."
Diese Zitatcollage als einen Beleg für obrigkeitsstaatliches Denkens zu sehen - das kann nur jemandem passieren, der nicht verstanden hat, dass hier die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen (einschließlich der Herrschenden) gegenüber Gott zum Ausdruck gebracht wird. Hinter diesem Unverständnis liegt das Unwissen darüber, dass diese Gleichheitsidee und damit das Prinzip der Universalität der Menschenrechte überhaupt erst mit der jüdisch-christlichen Tradition in die Welt gekommen ist.
Auf beides weist Omri Boehm in seinem Essay "Radikaler Universalismus - Jenseits von Identität" hin - und bietet damit nicht nur aufklärende Lektüre für geschichtsvergessene Kulturpolitiker über eine wesentliche Wurzel von Demokratie und Menschenrechten, sondern auch eine kundige Auseinandersetzung mit postmodernem Denken, welche uns Daniel-Pascal Zorn in seinem Buch über "Die Krise des Absoluten" so virtuos vorenthalten hat.
Das, was Zorn auf knapp 600 Seiten nicht gelingt, schafft Omri Boehm auf weniger als 200: nämlich postmodernes Denken nicht nur auf den Punkt zu bringen, sondern seine aktuellen Folgen zu kritisieren und seine ideengeschichtliche Genese zu beschreiben. Zugegeben: beide Bücher haben unterschiedliche Themen, Ansätze und Ziele. Aber während Zorn daran scheitert, das titelgebende "Absolute" auch nur zu definieren, geschweige denn inhaltlich zu füllen, nennt Boehm Ross und Reiter beim Namen: für ihn sind Humanismus und Menschenrechte ohne das Prinzip des Universalismus nicht denkbar, der sich wiederum ohne Rückgriff auf Abraham (und damit auf den Glauben an einen absoluten Gott, vor dem auch alle Herrschenden "die Knie beugen müssen") weder begründen noch verteidigen lässt.
Inhaltlich ist Omri Boehm übrigens damit ganz nah beim britischen Rabbi und Philosophen Jonathan Sacks, der in “The Great Partnership” auf eindrucksvolle Weise beschreibt, dass der Aufstieg des Westens keineswegs in Abgrenzung und Abwehr von Religion, sondern vielmehr auf dem Fundament des jüdisch-christlichen Weltbildes verstanden werden muss. (Und bevor sich jemandem angesichts der Formel "jüdisch-christlicher Werte" die Zehennägel aufrollen, weil sie so oft von rechtskonservativen "Bewahrern des Abendlandes" als rhetorische Grenzmarkierung gegenüber verkappten oder offenen Antisemiten missbraucht wurde: beide Autoren, Sacks und Boehm, betonen die weltanschauliche Verwandtschaft ersten Grades von Judentum und Christentum sehr überzeugend und sehen die Geschichte des christlichen Antisemitismus auch deshalb als einen zutiefst ignoranten Irrweg an, weil dieser eben dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott, wie sie in beiden Religionen zum Ausdruck kommt, so offensichtlich widerspricht.)
Für Boehm bildet sich das Absolute also im Universalismusprinzips ab, und die "Krise des Absoluten" besteht für ihn in den expliziten und impliziten Angriffen auf den Universalismus als Prinzip, die tatsächlich aus zwei Zeiten und von drei Seiten kommen. Denn erstens führen sowohl die traditionelle Aufklärung (in ihrer rationalistischen Variante) als auch die postmodernen Über-Aufklärer einen offenen Kampf gegen den Universalismus. Dabei enthalte Kants "Kritik der reinen Vernunft" keine Bibelkritik, so Boehm, sondern Vernunftskritik; der Glaube sei für Kant ein Gegenmittel gegen jede Form von illegitimer Autorität oder Macht. (51)
Und zweitens seien sich Linke sowie Rechte heute in diesem einem Punkt überraschend einig: "Das Problem mit dem universalistischen Projekt der Aufklärung besteht nicht darin, dass es gescheitert ist, sondern dass man es überhaupt versucht hat. Und so wetteifern beide politischen Lager darum, den Maßstab des abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen..." Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpfe (und eigentlich nationale Identität meint), so kämpfe die Linke im Namen postmoderner Identitätskriterien (wie Gender und Race). "Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Er wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten."
Gefährlicher noch als die offene Ablehnung des universalistischen Prinzips sei allerdings das, was Boehm drittens als "falschen Universalismus" bezeichnet, der sich in der Geschichte des modernen Liberalismus durch Dewey, Rawls, Rorty und andere manifestiert habe: "Moderne liberale Denker sind manchmal stolz darauf, alle unabhängigen Standards zu verwerfen und ihnen eine Idee von der Menschheit entgegenzusetzen, die »keinen Gehorsam gegenüber einer nichtmenschlichen Autorität kennt«... Doch diese vermeintlich radikale demokratische Ersetzung einer höheren Gerechtigkeit durch bloße menschliche Autorität droht eine Tyrannei der Mehrheit zu schaffen, die Konformismus zur zweiten Natur macht. Paradoxerweise ist Selbstdenken, die Zurückweisung der Autorität anderer, nur möglich, indem man einem höheren Gesetz folgt, das nicht menschengemacht ist." (20)
Rawls werde von Freund wie Feind als kantianischer Universalist verstanden, aber nur, weil wir heute etwas anderes unter Universalismus verstehen. "Seine Ersetzung der Wahrheit durch den Konsens vermittels der »Intuitionen« derer, die aus »einer bestimmten politischen Überlieferung« heraus sprechen, ist die robusteste Ersetzung von Kants abstrakter Verpflichtung gegenüber der Menschheit durch Deweys naturalisierte, von einer Gruppe geteilten Erfahrung." (113)
Dass dieser Konsens immer kleiner wird, können wir gerade beobachten: Die Gesellschaft zerfällt in immer mehr Identitätsgruppen, die ihre Existenzberechtigung eben nicht inklusiv auf ein universalistisches Prinzip und die daraus folgenden ethischen Verpflichtungen für alle zurückführen, sondern (immer expliziter) aus ihrem jeweils eigenen, exklusiven Anspruch auf Wahrheit ableiten. Ohne universalistischen Referenzpunkt wird damit notwendigerweise der Interessenausgleich mit anderen Identitätsgruppen (und der Mehrheitsgesellschaft) zu einem Nullsummenspiel, in dem das einzige Entscheidungskriterium der gefühlte Rang auf der nach unten offenen Unterdrückungsskala zu sein scheint.
Was Boehms Analyse so aktuell und erhellend macht, ist der Gegensatz, den er zwischen echtem Universalismus und seiner identitätspolitisch verwässerten Karikatur aufbaut, indem er an die Ursprünge einer religiösen Tradition zurückgeht, die den Menschen als Gegenüber Gottes (und damit Adressaten und Agenten seiner Liebe, Wahrheit und Freiheit) in den Mittelpunkt stellt - eine Tradition, die eben von Kant nicht infrage gestellt, sondern vielmehr eindrucksvoll bestätigt wird, indem er "Würde, Abstraktion, Universalismus und Autorität untrennbar miteinander" verbinde (52).
Mit einer theologisch gewagten, aber erfrischenden Herleitung erklärt Boehm den biblischen Monotheismus, der von den Herrschenden so oft als Rechtfertigung für unbedingten Gehorsam missbraucht wurde, zum Ausdruck eines noch abstrakteren Konzeptes, indem er behauptet: "Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschließend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen." Nur so lasse sich die verwirrende Geschichte von der gescheiterten Opferung Isaaks durch Abraham richtig verstehen: als den Beginn der Erkenntnis, dass der Mensch nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, sein Gewissen über den absoluten Gehorsam gegenüber einer höheren Autorität zu stellen - selbst wenn das heißt, sich gegen eine falsche Vorstellung von "Gott" stellen zu müssen:
"Tatsächlich, und das ist an dieser Stelle der springende Punkt, bestand die ethische und rechtliche Norm im heidnischen Nahen Osten zu Abrahams Zeiten darin, seinen Erstgeborenen zu opfern. Eklatant unmoralische Gebote können (und werden oft) für das gehalten werden, was zu tun richtig und durch Konsens wie Verfassung legitimiert ist. Abraham verkörpert die höchste Stufe der Prophetie nicht deshalb, weil er »Gott« gehorcht, das heißt den konventionellen Normen, sondern der moralischen Autorität, die über ihnen steht. Abrahams höchste Form der Prophetie besteht darin, dass er sich der Wahrheit und nicht dem Konsens unterwirft – dass er »Gott« widerspricht und den Widder opfert statt des Sohnes." (134) Glaubwürdigkeit gewinnt diese Interpretation auch durch den Hinweis, dass im hebräischen Originaltext an dieser Stelle tatsächlich zwei unterschiedliche Begriffe für "Gott" (nämlich Elohim und Jahwe) benutzt werden, die offensichtlich die beiden unterschiedlichen ethischen Rahmenerzählungen repräsentieren, die hier im Widerstreit lagen.
Das Verdienst Kants besteht nach Boehm darin, diese Erkenntnis "ins säkulare Denken zu übersetzen, ohne in religiösen Glauben oder eine wissenschaftliche Reduktion zurückzufallen. Bei Kant wurde die Idee der Menschheit erstmals als moralischer Begriff formuliert: Was Menschen menschlich macht, ist keine natürliche Eigenschaft, sondern ihre Freiheit, ihrer Verpflichtung auf moralische Gesetze zu folgen. Weil menschliche Lebewesen offen für die Frage sind, was sie tun sollen, sind sie selbst Subjekte von absoluter Würde... Indem er die Idee der Menschheit als einen moralischen Begriff formulierte, übersetzte Kant nicht nur die biblische Auffassung von Pflicht, sondern er modernisierte die Idee, einem Gesetz zu folgen, das nicht von Menschen gemacht ist." (16)
Wer sich von dieser Erkenntnis Kants abwendet und das konstituierende Moment der Würde des Menschen nur noch durch die Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Gruppe verwirklicht sieht (offenbar der unweigerliche Endpunkt der Argumentationskette jedes Vertreters des applied postmodernism), baut sich damit eine hübsche self-fulfilling prophecy, denn "... in diesem Punkt wäre sich Kant mit den »Identitätslinken« einig: Scheitert die Modernisierung einer abstrakten Menschheitsidee und eines absoluten Gesetzesbegriffs, dann ist die Rede vom Universalismus Identitätspolitik für weiße Männer." (17)
Man kann sicher nicht von allen verlangen, die Begründung des universalistischen Prinzips durch Abraham nachzuvollziehen - aber dass mit ihm eine Idee vom Menschen in die Welt gekommen ist, dem absolute Würde zukommt, weil er als Gegenüber eines Absoluten gedacht und behandelt wird, der selbst wiederum der Absolutheit seiner Werte verpflichtet sein muss, wenn dieser Anspruch auf Absolutheit konsistent und glaubhaft sein soll, leuchtet mir durchaus ein.
Das Buch von Omri Boehm ist keine pragmatische Handreichung für die Lösung identitätspolitischer Konflikte - aber ein überzeugendes Plädoyer dafür, dass das Absolute gerade nicht das Problem, sondern vielmehr der Schlüssel zur Lösung vorletzter Fragen ist. Er ist sich mit dem späten Habermas einig, dass das Absolute nicht ignoriert werden darf, sondern dass sich Geistesgeschichte immer zwischen Wissen und Glauben abgespielt hat. Er stimmt damit implizit Jonathan Sacks zu, der sagt, dass "Science takes things apart to see how they work. Religion puts things together to see what they mean."
Mit seinem Angriff auf das postmoderne Denken, das Metanarrative als Repräsentanten des Universellen und Absoluten ablehnt, formuliert Boehm eine knappe, aber treffende Antwort auf Zorns ratlose Resignation angesichts der "Krise des Absoluten". Boehm ergänzt damit aktuelle Erkenntnisse über Narrative als notwendiges Element menschlichen Denkens - aus denen fast zwangsläufig folgt, dass Metanarrative konstitutiver Bestandteil jeglicher Versuche sind, sich als Mensch in der Gesellschaft und als Menschheit in der Welt zu orientieren.
Diese Metanarrative als Interface (oder "Brückentechnologie") zu den absoluten und universellen Werten zu verstehen, die hinter, unter und über ihnen liegen, heißt, die Kriterien für aktuelle ethische Entscheidungen eben nicht im Hier und Jetzt unserer Identitäten zu suchen, sondern im unsichtbaren Raum ewiger Wahrheiten: "Eine universalistische Politik muss in einer Veränderung dessen bestehen, wer »wir« sind und wie »wir« unsere Werte verstehen, und zwar nicht im Verhältnis zu unseren vergangenen Identitäten, Werten und Geschichten, sondern im Verhältnis zu einer Verpflichtung auf die Wahrheit, die unsere Interessen, Intuitionen und Bequemlichkeit übersteigt – und darüber entscheiden wird, wer wir in Zukunft sein werden."
Die Inschrift am Berliner Stadtschloss drückt eine universelle Wahrheit aus, die in die Sprache des Glaubens übersetzt wurde. Kant wiederum hat dieselbe Wahrheit in die Sprache der Philosophie übersetzt. Omri Boehm arbeitet überzeugend heraus, dass beide Übersetzungen nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern "Glaube ... für Kant alles andere [ist] als eine Form konservativer oder gehorsamer Unterwerfung; er bildet sich vielmehr als Gegenmittel gegen jede Form von illegitimer Autorität oder Macht heraus."
Für die Konsequenz, "mit der er den Kern des humanistischen Universalismus, die Verpflichtung zur Anerkennung der Gleichheit aller Menschen, gegen jegliche Relativierung verteidigt," wurde Omri Boehm soeben mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2024 ausgezeichnet.